Wien (OTS) – Etwa 20.000 Menschen sind in Österreich von
neuromuskulären
Erkrankungen betroffen. Eine davon, die spinale Muskelatrophie (SMA),
ist seit 4 Jahren erfolgreich im nationalen Neugeborenen-Screening
verankert und kann bei schweren Krankheitsbildern mit innovativer
Genersatztherapie bei Säuglingen behandelt werden. Darüber und über
weitere Forschungs- und Behandlungsfortschritte auch bei anderen
neuromuskulären Erkrankungen wie der Duchenne Muskeldystrophie und
den Gliedergürtel-Dystrophien geht es beim World Muscle Society
Congress (WMS) der vom 7. bis 11. Oktober im Austria Center Vienna
stattfindet.
„Neuromuskuläre Erkrankungen sind eine große Gruppe von
Erkrankungen, bei denen der Muskel in seiner Struktur oder in seiner
Funktion betroffen ist. Von diesen Erkrankungen, die entweder
genetisch bedingt und daher angeboren sind oder im Laufe des Lebens
erworben werden, sind allein in Österreich an die 20.000 Menschen
betroffen. Für die ca. 1.200 genetisch bedingten Muskelkrankheiten,
gibt es nicht nur Grundlagenforschung, sondern auch Therapien in
Entwicklung, von denen einige bereits zugelassen sind. Eine besondere
Erfolgsgeschichte ist das Neugeborenenscreening auf spinale
Muskelatrophie (SMA), das die präsymptomatische Behandlung dieser,
unbehandelt oft tödlich verlaufenden, Erkrankung mit Gentherapie
ermöglicht“, so Univ.-Prof. Dr. Günther Bernert, Chair des World
Muscle Society Congress (WMS) und Präsident der Österreichischen
Muskelforschung.
Zwtl.: Erfolgsgeschichte Neugeborenen-Screening bei SMA
„Die spinale Muskelatrophie ist mit rund 300 betroffenen Menschen
in Österreich eine der häufigsten genetisch bedingten
Muskelerkrankungen. Im Schnitt ist eines von 7.000 Neugeborenen davon
betroffen“, erklärt Bernert. Seit 2021 ist die Genanalyse auf SMA
erfolgreich in Österreich in das Neugeborenen-Screening aufgenommen.
„Sie ist damit derzeit die einzige neuromuskuläre Erkrankung, die im
Screening-Programm abgedeckt ist. Pro Jahr können wir dadurch 8 bis
10 SMA-Patienten identifizieren“, betont der Neuropädiater. Das ist
wichtig, denn unbehandelt würden die schwersten Fälle innerhalb von 2
Jahren zum Tod führen. „Legt die Genanalyse den Verdacht auf SMA
nahe, untersuchen wir das Neugeborene klinisch. In diesem frühen
Alter erscheinen die meisten Betroffenen noch gesund, während sie –
unbehandelt – schon wenige Woche später den Kopf in Bauchlage nicht
von einer Seite auf die andere drehen oder sich auf den Ellenbogen
abstützen könnten. Bestätigt sich der Verdacht des Neugeborenen-
screenings in einer genetischen Kontrolluntersuchung, kann innerhalb
von zwei Wochen nach der Geburt mit der Therapie begonnen werden. Wir
haben mehrere genbasierte Therapieoptionen, aber die meisten Eltern
entscheiden sich für den innovativen Gentransfer“, erklärt Bernert.
Zwtl.: Innovative Genersatztherapie – einmaliger Einsatz bei schweren
SMA-Verläufen
Bei der Genersatztherapie wird versucht, an der genetischen
Ursache der Erkrankung anzusetzen. Diese besteht in einer Veränderung
des SMN-1-Genes am Chromosom 5. „Dieses Gen ist bei den erkrankten
Menschen defekt und kann daher ein bestimmtes Protein, das für die
Entwicklung und den Erhalt der motorischen Nervenzellen im Rückenmark
entscheidend ist, nicht produzieren. Ohne dieses SMN-Protein sterben
die Nervenzellen ab und es kommt zur Muskelschwäche“, erklärt
Bernert. „Bei der Genersatztherapie wird daher das defekte SMN1-Gen
durch ein funktionierendes Gen ersetzt. Das neue Gen wird dabei über
ein virales Transportsystem, dem sogenannten Vektor, in die Zelle
eingeschleust. Dieser Vektor sorgt dafür, dass die Nervenzellen mit
dem funktionierenden Gen „infiziert“ werden und dadurch nun das
funktionelle SMN-Protein produzieren, damit die Signale vom Gehirn an
die Muskeln weitergeleitet werden können. Am wirksamsten ist diese
Therapie bei möglichst jungen Säuglingen noch vor dem Sichtbarwerden
der ersten Symptome, da die Nervenzellen dann noch nicht irreversibel
geschädigt sind“, so der Präsident der Österreichischen
Muskelforschung. Die Vorteile der Genersatztherapie liegen auf der
Hand: Mit der Gabe von nur einer intravenös verabreichten Dosis ist
die Therapie erfolgt und es sind, laut derzeitigem Wissensstand,
keine Folgebehandlungen notwendig. Die Zulassung liegt für Patienten
mit einem Körpergewicht bis maximal 21 kg vor.
Zwtl.: Weitere Therapieoptionen bei SMA
Da die Genersatztherapie auch bestimmte Nebenwirkungen – wie
Leberentzündungen – haben kann, wird sie derzeit nur bei schweren
Verlaufsformen, das sind allerdings ca. zwei Drittel aller SMA-
Erkrankungen, eingesetzt. Für Patienten, die eine milde Form der SMA-
Erkrankung haben oder schwerer als 21 kg sind, stehen zwei
Therapieoptionen zur Verfügung. Das Medikament „Nusinersen“ wird
intrathekal durch eine Lumbalpunktion direkt in den Liquorraum des
Rückenmarks verabreicht. Die Behandlung, die in spezialisierten
Zentren erfolgt, umfasst eine Initialphase mit mehreren Dosen und
eine anschließende Erhaltungsphase in regelmäßigen Zeitabständen.
Das Medikament „Risdiplam“ steht als Saft für die orale Einnahme
zur Verfügung. Im Juni 2025 erfolgte die Zulassung für die Therapie
in Tablettenform.
Genersatztherapie – Hoffnung auch für andere neuromuskuläre
Erkrankungen
Um zukünftig auch andere neuromuskuläre Erkrankungen mithilfe einer
Genersatztherapie behandeln zu können, wird weltweit geforscht. „Bei
der Duchenne Muskeldystrophie (DMD), die wie SMA eine der häufigsten
neuromuskulären Erkrankungen bei Kindern ist, stehen wir hier
beispielsweise noch vor dem Problem, dass das betroffene Gen zu groß
ist, um es in einen Vektor zu verpacken. Daher gehen aktuelle Ansätze
in die Richtung, mit Gen-Konstrukten zu arbeiten, die kürzer und
kleiner sind als das natürliche Gen und daher keinen kompletten
Ersatz bieten können, aber vielleicht den Krankheitsverlauf
verbessern können. Man versucht also, aus einem großen genetischen
Fehler einen kleinen zu machen“, erklärt Bernert. Auch bei den
Gliedergürtel-Dystrophien, das sind erbliche Muskelerkrankungen, die
vor allem die rumpfnahen Muskeln des Schulter- und Beckengürtels
betreffen, wird gerade in mehreren fortgeschrittenen Studien an der
Entwicklung von Gentherapien gearbeitet. Die Hoffnung ist also groß,
hier bald weitere innovative Therapien zur Verfügung zu haben.
Bedeutung der „Standards of Care“ für den Therapieerfolg
Sowohl bei neuen als auch bestehenden Therapien spielen die
„Standards of Care“ eine wichtige Rolle. Darunter versteht man
Therapien, die nicht die erkrankte Muskulatur direkt, sondern die,
von der Muskelschwäche miterfassten anderen Organsysteme unterstützt.
Für die häufigsten neuromuskulären Krankheitsbilder wurden „Standards
of Care“ erarbeitet und publiziert. „Aufgabe der „Standards of Care“
ist die Aufmerksamkeit auf Herzmuskulatur, Atmung und auf das
Fortschreiten von Skoliose zu richten, sowie auf alles, was im
weitersten Sinne das Leben mit der Erkrankung verbessert“, so
Bernert.
Über die IAKW-AG und den WMS-Kongress
Die IAKW-AG (Internationales Amtssitz- und Konferenzzentrum Wien,
Aktiengesellschaft) ist verantwortlich für die Erhaltung des Vienna
International Centre (VIC) und den Betrieb des Austria Center Vienna.
Das Austria Center Vienna ist mit 21 Sälen, 134 Meetingräumen sowie
rund 26.000 m² Ausstellungsfläche Österreichs größtes Kongresszentrum
und gehört zu den Top-Playern im internationalen Kongresswesen. Der
WMS-Kongress wird von der World Muscle Society organisiert. Er findet
heuer erstmalig in Österreich statt und feiert hier mit rund 1.500
Teilnehmern vom 7. bis 11. Oktober sein 30-jähriges Jubiläum.